Was ist eigentlich an der Jugend so toll?
Wenn wir ehrlich sind, wird Jugend in unserer Kultur fast schon vergöttert. Jung sein steht für Schönheit, Vitalität, grenzenlose Möglichkeiten.
Aber wie war das denn, als Sie noch jung waren? Fanden Sie es auch 'göttlich', jung zu sein? Waren Sie glücklich, weil Sie im Besitz dieses so wertvollen Guts waren, der Jungend? Konnten Sie würdigen, in welch privilegierter Situation Sie waren?
Die Vergötterung der Jugend führt, logischerweise, zu einer geringe(re)n Wertschätzung des Alters. Das war ja nicht immer so in unserer Kultur.
Und wie ist es denn in Wahrheit mit der 'Schönheit' (der Jugend)?
Ich erinnere mich an einen Videoclip, der vor Monaten viral ging: Es kleiner Vogel an einer Tankstelle balzte eine Coladose an. Er konnte nicht anders. Der Reiz war einfach zu stark. - Das arme Tier ... - Es war einfach ein bestimmter Farbton auf der Dose, der bei diesem Vogel, genetisch bedingt, das Balzverhalten auslöste. In unsere menschliche Sprache übersetzt: Er fand diesen Farbton bzw. das Objekt, das diesen Farbton trug, unwiderstehlich.
Diese Szene fuhr mir regelrecht in die Glieder, weil mir unmittelbar bewusst wurde: Wir Menschen sind auch nicht wirklich anders. Wir unterscheiden uns nicht prinzipiell von diesem Vogel. Der Unterschied besteht schlicht darin, dass wir auf andere optische Reize reagieren, z. B. auf bestimmte Formen (der Brüste, des Pos, der Figur etc.). Doch der Mechanismus ist identisch! - Wir erkennen das spätestens an dem Erfolg dieser Sexpuppen von Beate Uhse. Wir erkennen es aber auch daran, dass einige Millionen farbige Pixel auf der Titelseite einer Zeitschrift eine ähnliche Reaktion in vielen Menschen/Männern auslösen können. - Jeder kennt den Spruch "Schönheit liegt im Auge des Betrachters". Aber wenige erkennen die Radikalität seiner Bedeutung. Nie wurde mir der Sinn dieser Redensart, dieser WEISHEIT, mehr bewusst als in diesem Moment. Nein, 'schön' ist nicht eine Eigenschaft des Objekts: Für den einen sind große Brüste schön, für den anderen eher kleine, für den einen sind große runde Formen bei der Figur schön, für den anderen schmale. Etwas schön finden ist nichts Anderes als die Beschreibung einer Reaktion in uns. - Und wenn ein Junge hingerissen ist von einem 'süßen Mädchen', was ist da anders als bei dem Vogel, der 'hinigerissen' ist von dem Farbton auf der Coladose.
Was sind wir doch für erbärmliche (Bio-) Automaten ...
Doch zurück zum Jung sein: Jung zu bleiben – äußerlich wie innerlich – ist eine enorme Herausforderung. Und sie ist keineswegs nur positiv. Der Tod ist immer nah, auch dann, wenn wir jung oder jung geblieben sind. Vielleicht sogar gerade dann. Denn auch wer jung ist, steht inmitten eines fortwährenden Sterbens: Zellen sterben ab, Erfahrungen verblassen, Lebensentwürfe zerbrechen. Die Jugend selbst ist ein ständiger Prozess des Abschieds — nur wird das in der Verklärung des “ewigen Frühlings” gerne übersehen. Ist es nicht so, dass das Kind 'stirbt', wenn es erwachsen geworden ist? Ist ihr (erwachsenes) Kind von heute wirklich noch 'derselbe Mensch' wie damals, als dieses süße Wesen auf Ihrem Schoß saß und mit heller Stimme verkündete, dass es Sie lieb hat? Dieses Kind, das müssen Sie doch zugeben, existiert doch nicht mehr.
Das Problem mit dem Jung bleiben ist unser Wunsch, zu bewahren. Wir wollen die Jugend festhalten, das Bild der Unversehrtheit konservieren. Aber so geht das nicht. Dieser Wunsch ist lebensfeindlich. Leben bedeutet nämlich Veränderung, ist gleichbedeutend mit Veränderung – und durch Veränderung wird Leben bewahrt. Stillstand ist Tod, nicht Veränderung! Junge Menschen sind geradezu gierig nach Veränderung, alte Menschen meiden sie allzu gern.
Bewahren zu wollen steht dem Jung bleiben im Wege !
Auch geistige Jugendlichkeit entsteht nicht durch Festhalten (an dem, was man als 'jugendlich' einzuordnen gelernt hat), sondern durch Loslassen. Denn jede echte Veränderung bedeutet, etwas aufzugeben, um Raum für das Neue zu schaffen. Und Veränderung heißt nun einmal immer Loslassen.
Alter und Tod – eine falsche Verknüpfung
Alter wird mit Tod assoziiert. Alter erscheint als etwas, das den Tod “näher” bringt. Doch das ist unüberlegt.
Das Alter ist dem Tod nicht näher als die Jugend. Als ob nicht zahllose junge Menschen sterben würden – gerade in Kriegszeiten, bei gefährlichen Sportarten oder schlicht durch tragische Zufälle! Denken wir daran: Ein 20-Jähriger weiß genauso wenig wie ein 80-Jähriger, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Ein Jahr? Zehn Jahre? Zehn Stunden? Niemand weiß es. Der Tod ist nicht etwas, das erst “im Alter” anklopft. Der Tod ist immer nah.
Aber, (fast) alle Menschen wollen alt werden. Möglichst alt. Und, vor allem, möglichst fit dabei bleiben. Die große Mehrzahl stellt sich solch ein Altwerden, stellt sich also den Erfolg eines Antiaging so vor, dass das Leben im Grunde einfach weitergeht wie gewohnt, nur mit ein paar grauen Haaren mehr. Aber das ist eine Illusion. Wer alt werden will, muss sich darüber im Klaren sein: Das Leben bleibt nicht einfach dasselbe. Es wird sich radikal verändern, gerade in unserer heutigen Zeit – und zwar schneller und tiefgreifender, als die meisten es sich heute überhaupt vorstellen können.
Gravierende Veränderungen der Lebensumstände der Menschen war ja schon immer Teil des Lebens. Denken wir nur an das Jahr 1900: Hätte sich damals jemand vorstellen können, dass es einmal so etwas wie ein iPhone geben würde? Dass Informationen in Sekundenbruchteilen um den gesamten Erdball wandern? - Und nicht alle Menschen haben solche Veränderungen (sogleich) auch begrüßt, insbesondere alte Menschen wollten oft von dem 'neumodischen Kram' nichts wissen ...
Und ja, speziell UNSERE Zukunft, die Zukunft der Menschen, die jetzt leben, wird ganz sicher nicht einfach eine bloße Verlängerung der Gegenwart sein. Sie wird anders sein – vermutlich so anders, dass viele heutige Selbstverständlichkeiten völlig verschwinden werden.
Sind wir wirklich bereit für diese Veränderung? Sind wir bereit, uns selbst so radikal zu verändern, wie dazu notwendig?
Ich befürchte, die Menschen ahnen nicht, was es bedeutet, wenn sie sich nach einem langen Leben sehnen. Unsere psychischen Muster sind träge. Unser Musikgeschmack etwa formt sich bis etwa zum 30. Lebensjahr und bleibt dann – oft für den Rest des Lebens – weitgehend stabil. Wir hören weiter die Musik unserer Jugend, lange nachdem sich die Welt um uns herum völlig verändert hat. Aber wie wollen wir mit derartiger Trägheit mit einer Welt zurechtkommen, in der alte Muster keinerlei Orientierung mehr bieten können?
Ich stelle mir manchmal provokante Fragen: Was wäre, wenn wir eines Tages unsere Energie nicht mehr durch das Töten anderer Lebewesen gewinnen würden – weder Tiere noch Pflanzen? Was wäre, wenn wir uns stattdessen einfach an eine Energiequelle anschließen könnten, wie eine Batterie an eine Steckdose?
Viele werden bei diesem Gedanken spontan abwinken: Essen bedeutet doch Lust, bedeutet Genuss! Wie arm wäre unsere Welt ohne diesen Genuss. Es ist in Zahlen nicht zu erfassen, welchen ungeheueren Raum in unserer Wahrnehmung und in unseren Handlungen - und im wirtschaftlichen Feld - das Essen einnimmt. Ja – aus unserer heutigen Sicht, innerhalb unserer heutigen Existenzform, ist das so: Essen ist eine der beiden wichtigsten Quellen für Genuss/Lust. Aber können wir wirklich beurteilen, welche Formen von Lust und Erfüllung in einer völlig anderen Existenzform möglich wären? Wie viel von dem, was wir heute als lustvoll und wünschenswert empfinden, ist geprägt durch das, was wir eben kennen – und nicht durch ein Erkennen (oder Erfinden) alternativer Möglichkeiten?
Wenn wir lange leben wollen, wird das nicht anders möglich sein als durch eine unglaubliche Steigerung an Flexibilität, an Offenheit, an der Bereitschaft, das Altvertraute loszulassen. Und an der Fähigkeit, ganz neue Wege zu gehen – nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich.
Alt werden ist keine bloße biologische Leistung. Es ist eine Herausforderung an unsere gesamte Existenz. Nicht nur unser Körper muss sich wandeln – auch unser Geist und unsere Seele.
Kurz: Wenn wir alt werden wollen, müssen wir bereit sein, uns zu verändern.
Jung bleiben wollen ist eine Paradoxie, weil Jung sein bedeutet, sich permanent zu verändern. Die beste Übersetzung für 'Jung bleiben' ist daher "Bereitschaft zur Veränderung".
Und das bedeutet vor allem: loslassen zu lernen.
Alter als Chance: Befreiung von der Tyrannei der Lust
Welche Veränderung steht eigentlich im Alter an? Gibt es ein Entwicklungspotenzial, das sich womöglich sogar erst im Alter wirklich entfalten kann?
Es gibt vieles, was nur ab einem bestimmten Lebensalter überhaupt möglich wird: Kinder zeugen oder gebären etwa ist an ein biologisches Mindestalter gebunden. Niemand erwartet von einem Kleinkind, Vater oder Mutter zu werden. In ähnlicher Weise stellt sich die Frage: Gibt es Bereiche innerer Entwicklung, die erst in der Lebensphase des Alterns aufgehen können? Gibt es Fähigkeiten oder Perspektiven, die wir überhaupt nur im Alter erreichen können?
Ein Aspekt, der mir dabei immer wieder in den Sinn kommt, ist der Zugang zur Zeit selbst. Junge Menschen leben mitten in ihren Biografien. Alles ist noch im Entstehen, im Aufbau, im Werden. Sie kennen nur das Jetzt und das unmittelbar Vorher oder Nachher. Alte Menschen dagegen – wenn sie sich dieser Möglichkeit öffnen – können etwas erleben, was junge Menschen grundsätzlich verborgen bleibt: die Erfahrung ganzer Generationen im Überblick.
Ich liebe Kinder sehr. Schon als junger Mann habe ich viel Zeit mit ihnen verbracht, habe gesehen, wie sie wachsen, lernen, sich verändern. Und jetzt, im Alter, sehe ich etwas, das damals noch unsichtbar war: dieselben Kinder bekommen eigene Kinder. Ich sehe eine ganze Generation heranwachsen und wieder neue Generationen hervorbringen. Ich sehe Ähnlichkeiten, erkenne bekannte Themen und Lebensmuster. Diese Beobachtung berührt mich tief, denn sie ist nur durch die Erfahrung der Zeit in ihrer Langstreckendimension möglich – eine Erfahrung, die sich naturgemäß erst im Alter eröffnen kann.
Allerdings: Technische Hilfsmittel wie Fotos und Filme eröffnen diese Möglichkeiten auch für junge Menschen. Wir können in einem einzigen Abend einen Film anschauen, der das gesamte Leben eines Menschen umfasst – Geburt, Kindheit, Jugend, Partnerschaft, Elternschaft, Altern, Tod.
Und eines wird dabei überdeutlich: Das meiste, was ein Leben ausmacht, ist Wiederholung. Wenn wir die Zeit abziehen, die wir schlafend verbringen – etwa ein Drittel unseres Lebens – sowie all die tausendfachen Wiederholungen des Zähneputzens, Essens, Toilettengangs, dann schrumpft das “aktive”, das “eigentliche” Leben noch einmal erheblich. Ein abendfüllender Film reicht aus, um das Wesentliche eines ganzen Lebens einzufangen. Das Allermeiste in unserem Leben ist die ewig gleiche Wiederholung.
Diese Erkenntnis öffnet einen besonderen Blickwinkel: Besonders im Alter können wir unser eigenes Leben und das Leben anderer wirklich überblicken. Wir können die Vogelperspektive einnehmen. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Flugreise. Als ich aus dem Flugzeugfenster auf die Erde hinabblickte, hatte ich ein tiefes Gefühl der Relativierung. All die winzigen Autos, die endlosen Straßen wirkten auf mich wie Ameisenstraßen. Ich sah auf einmal, wie relativ mein eigenes kleines Leben war – und gleichzeitig, wie tief es in ein größeres Ganzes eingebettet war.
Alter könnte – könnte – genau das bedeuten: Erfahrung. So wie bei den alten Elefanten, die alle Wasserstellen kennen und das Überleben der Herde sichern. Aber in unserer menschlichen Realität ist das leider oft nicht so. Erfahrung setzt voraus, dass wir die Welt um uns herum wirklich wahrnehmen, dass wir bewusst leben. Doch viele Menschen torkeln eher gedankenlos durchs Leben, getrieben von einem einzigen Impuls:
Lust.
Und hier kommen wir zu einem Punkt, der mir besonders wichtig ist: Das Alter könnte eine Chance sein, sich von dieser nahezu totalitären Macht der Lust zu emanzipieren.
Unser Verhalten, unser ganzes Leben wird weit mehr vom Lustprinzip gesteuert, als uns bewusst ist oder wir wahrhaben wollen. Wir sind alle, ausnahmslos, Hedonisten. Sollte es eine uns überlegene Lebensform im Universum geben, die uns beobachtet und vielleicht mit uns Experimente macht – ich bin sicher: Nichts wäre leichter, als uns zu manipulieren. Alles, was sie tun müssten, wäre, irgendeine Tätigkeit oder irgendeinen Zustand so zu gestalten, dass er unser Lustzentrum aktiviert. Wir würden diese Tätigkeit dann immer und immer wieder ausführen, koste es, was es wolle. - Und genau das tun wir auch!
Wir sind im Kern nicht viel mehr als hochentwickelte Affen, die für eine komplexere “Banane” zu allem bereit sind. Die äußeren Formen mögen sich gewandelt haben, das Prinzip bleibt dasselbe. Wir reagieren auf Lust und Schmerz wie Automaten, folgen blind den Anreizen, die unsere Neurochemie in uns auslöst.
Anmerkung
Ich höre geradezu den Widerspruch: "Aber wir sind doch in der Lage, uns an Werten zu orientieren. Ja, ja. Der Philosoph Frege drückte es so aus: "Sage mir, welcher Philosophie du anhängst (sprich: Welche Werte zu vertrittst), und ich sage dir, was für ein Mensch du bist." Oder Schopenhauer: "Wir können zwar (Einschub: im Idealfall) TUN, was wir wollen, aber wir können nicht WOLLEN, was wir wollen."
Das Alter könnte die Phase sein, in dem wir uns von diesen 'Mechanismen' emanzipieren.
Warum gerade im Alter?
Weil wir vielleicht nicht mehr ganz so 'hungrig' sind, weil wir vielleicht unsere dominanten Begierden (zumindedst zu einem Teil) haben befriedigen können ...
Natürlich stellt sich die Frage: Wenn nicht Lust, was dann?
Was sollte uns dann leiten? Was könnte an die Stelle der Lust treten?
Das ist der Kern dessen, worum es bei der säkularen Spiritualität geht. Siehe dazu den übernächsten Abschnitt. Tatsache ist: Es wird 'Lust' bleiben (müssen), so funktionieren Organismen nun einmal. Aber wir haben schon einmal in unserem Leben erlebt, das Lust/Genuss nicht nur eine Frage der Biologie und Physiologie ist, sondern auch eine Frage der 'Kultivierung' (von Geschmack/Genuss).Was würden Sie von einem Erwachsenen denken, dessen dominante Begierde sich auf die neueste Variante einer Barbie-Puppe oder das neueste Modell eines Matchbox-Autos richtet? Hätten Sie nicht das Gefühl, dass er irgendwie 'zurück geblieben' ist? Und wenn ein 60Jähriger noch von denselben Begierden getrieben wird wie ein 20Jähriger? Ist der wirklich 'jung geblieben' oder müsste man nicht eher sagen, er ist retardiert?
Was als 'lustvoll' erlebt wird, ist keine Konstante, Vieles (auch Ideelles) spielt hinein! Es ist eine Tragik, dass die meisten Menschen meinen, Ihre Entwicklung sei mit dem Erreichen des Erwachsenen-Seins abgeschlossen und von da an gehe es (nur noch) bergab. Wenn wir lernen loszulassen, auch Illusionen loszulassen, dann muss das ganz und gar nicht so sein!
Was ich hier daher festhalten möchte: Alter muss nicht Abstieg bedeuten. Es kann, wenn wir bereit sind, ein Aufstieg sein, ein Aufstieg aus der Sklaverei des rein biologisch determinierten und noch wenig 'kultivierten' Lustprinzips hin zu (mehr) Souveränität.
Wir (und damit meine ich 'Wir Alten') müssen uns bewusst machen, welches ungeheuere Potenzial in dieser Lebensphase liegen kann, wenn wir bereit sind, uns auch im Alter weiter zu entwickeln: Welche Entlastung von Druck und Stress kann darin liegen, nicht mehr zu konkurrieren (um Macht und/oder Schönheit), nicht mehr konkurrieren zu müssen. Überhaupt: Nicht mehr (so viel) zu müssen. Der Genuss, der mit innerer Freiheit verbunden ist, der Seelenfrieden, der damit verbunden sein kann, das Konkurrieren aufzugeben, wird von uns, im Banne der Vergötterung der Jugend, wahrlich nicht ausreichend gewürdigt. Aber ...
Der Elefant im Raum: Das Thema Sex
Wenn wir ehrlich sind, gibt es bei aller nachdenklichen Betrachtung von Alter und Reife einen “Elefanten im Raum”, an dem wir nicht vorbeikommen: das Thema Sex im Alter.
Denn die Wünsche hören ja nicht einfach auf. In den meisten Fällen bleiben erotische Bedürfnisse auch dann bestehen, wenn die biologische Grundlage dafür – Jugend, körperliche Frische, unmittelbare Sinnlichkeit – zu schwinden beginnt. Der Körper wird älter, aber das Begehren, die Lust, das Verlangen sind zäh. Ein altes Bonmot bringt es auf den Punkt: “Gott, du nahmst mir das Können – nun nimm’ mir bitte auch das Wollen!”
Gerade im Bereich der Sexualität zeigt sich ein grundlegendes Dilemma des Alterns.
Das Alter ist keine gute Zeit, um Versäumtes nachzuholen. Dinge, die man in der Jugend verpasst, verschlafen oder aus Angst nicht bewältigt hat, lassen sich im Alter nur schwer oder gar nicht nachholen – und wenn, dann meist nur auf eine Weise, die schmerzhaft an die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit erinnert. Besonders deutlich wird das, wenn es um Sexualität geht.
Sex ist – entgegen manchen Vorurteilen – für die allermeisten Menschen, und durchaus nicht nur für Männer, die mächtigste Form der Belohnung überhaupt.
Während Essen, Erfolg, Anerkennung oder Macht ebenfalls tiefe Triebkräfte darstellen, steht für viele letztlich alles im Dienst der Erhöhung des eigenen erotischen Marktwertes. Ruhm, Reichtum, Status – all das wird oft deshalb angestrebt, weil es die Chancen erhöhen soll, das “begehrte Objekt” zu gewinnen.
Sexualität ist dabei mehr als nur ein körperliches Bedürfnis. Sie ist tief in unsere psychische Struktur eingebettet, ein Motor des Lebenswillens selbst.
Verliebtsein – dieses mächtige, geradezu rauschhafte Gefühl – ist ohne Bezug auf Sexualität kaum denkbar. Natürlich: Liebe im tieferen Sinn bedeutet, das Beste für den geliebten Menschen zu wollen, auch auf eigene Kosten. Aber Verliebtsein? Verliebtsein ist eine Form der Ekstase, ein Zustand, in dem wir bereit sind, jede noch so große Gefahr auf uns zu nehmen, um die Erfüllung der Sehnsucht nach körperlicher und seelischer Verschmelzung zu erreichen. Romeo und Julia sind das klassische Symbol dieser existenziellen Wucht: lieber den Tod wählen, als ein Leben ohne Erfüllung der Liebe ertragen.
Es wäre naiv, zu glauben, dass diese mächtige Triebkraft im Alter einfach verschwindet.
Vielmehr steht der alternde Mensch vor einer paradoxen Situation: Das Verlangen bleibt, doch die kulturelle wie biologische Realität entzieht diesem Verlangen zunehmend seinen gewohnten Resonanzboden.
Denn wir sind – biologisch und kulturell – so geprägt, dass wir einen alten Körper nicht mehr als erotisch empfinden. Nicht, weil der alte Körper an sich “schlecht” oder “abstoßend” wäre, sondern weil unser archaisches Erbe darauf ausgerichtet ist, Jugend und Frische als Fortpflanzungschancen zu erkennen – und Altern als deren Verlust.
In dieser Perspektive wird verständlich, warum für viele Menschen das Alter nicht einfach nur eine Zeit der nachlassenden Kräfte ist, sondern eine existenzielle Bedrohung: eine Zeit, in der sie das erleben müssen, was sie am meisten fürchten – den Verlust ihrer erotischen Anziehungskraft, den Verlust der Möglichkeit, begehrt zu werden.
Aber diese Sichtweise ist nicht alternativlos.
Das Phänomen der sogenannten Gerontophilie – also der erotischen Anziehung zu alten Körpern – zeigt uns, dass die kulturelle Prägung keineswegs so festgefügt ist, wie wir oft glauben. Es gibt Menschen, für die gerade der alte Körper, mit seinen Falten, seinen Zeichen der gelebten Zeit, erotisch anziehend ist. Diese Tatsache sollte uns zu denken geben: Vielleicht ist das, was wir als “natürlich” empfinden, viel stärker kulturell geprägt, als wir es wahrhaben wollen. Vielleicht könnte sich auch unsere eigene Wahrnehmung verändern – wenn wir bereit wären, unsere Vorurteile zu hinterfragen.
Es geht hier nicht darum, sich einzureden, dass das Altern “schön” sei im Sinne der gängigen Jugendästhetik. Es geht vielmehr darum, zu erkennen, dass Erotik nicht notwendigerweise an glatte Haut und straffe Körper gebunden ist. Erotik könnte z. B. auch in der Tiefe der Erfahrung, in der Weisheit der Augen, im Spiel der Falten und Linien liegen, die ein Leben erzählen.
Aber selbst wenn diese neue Sichtweise nicht entsteht oder nicht möglich ist – bleibt das Alter dennoch eine Chance. Eine Chance, den zentralen Mechanismus zu erkennen, der uns ein Leben lang antreibt: die Gier nach Lust, die Sucht nach Bestätigung, das zwanghafte Streben, begehrt zu werden.
Vielleicht – so könnte man sagen – ist das Alter die Bühne für eine letzte große Prüfung, einen letzten wirklich großen Entwicklungsschritt: Können wir uns lösen von diesem Automatismus? Können wir lernen, ein erfülltes, reiches Leben zu führen, auch ohne ständig auf die Bestätigung durch sexuelle Begehrtheit angewiesen zu sein?
Können wir lernen, die Energie, die früher in erotische Verführungsstrategien floss, in andere Formen der Verbindung zu transformieren, in tiefe Freundschaft, in Zärtlichkeit, in gelebte Weisheit?
Alter könnte dann bedeuten, nicht den Verlust der Sexualität zu beklagen, sondern die Befreiung von ihrer Tyrannei zu feiern.
Eine Befreiung, die nicht Verzicht bedeutet, sondern Öffnung: Öffnung für neue Formen der Nähe, der Liebe, der Begegnung.
Es gibt einen Elefanten im Raum – ja.
Aber vielleicht muss dieser Elefant nicht länger totgeschwiegen oder bekämpft werden.
Vielleicht können wir lernen, ihn mit offenem Herzen zu betrachten – und ihn dann, in Frieden, weiterziehen lassen.
Vom (Un-)Glücklichsein (im Alter)
Ich habe einige Jahrzehnte als Psychotherapeut gearbeitet. Heute arbeite ich hauptsächlich als Coach. Was ist eigentlich meine Aufgabe als Coach?
Wenn ich es in einem einzigen Satz zusammenfassen müsste, dann vielleicht so: Meine Aufgabe besteht darin, es den Menschen etwas zu erschweren, sich unglücklich zu machen.
Das klingt vermutlich überraschend. Viele Klienten kommen zu mir, weil sie glauben, sie wollten glücklicher werden. Und natürlich sagen sie das auch. Ehrlich. Aufrichtig.
Und doch ist es eine Erfahrung, die ich immer wieder mache: In Wirklichkeit scheinen viele gar nicht so recht daran gehindert werden zu wollen, sich unglücklich zu machen. Nicht, weil sie absichtlich leiden wollen, sondern weil sie sich nicht verändern wollen, weil ihre inneren Strukturen – ihre Denkmuster, ihre Erwartungen, ihre tief eingeprägten emotionalen Programme – so eingerichtet sind, dass sie Unglück fast schon anziehen.
Fragen wir uns: Warum sind so viele Menschen so erfolgreich darin, sich unglücklich zu machen? - Ein bedeutsamer Grund ist auf paradoxe Weise einfach:
Der wichtigste Schritt auf dem Weg zum Glücklichsein besteht darin, das Streben danach aufzugeben.
Glück ist kein Ziel, das man erreichen kann, indem man es anvisiert. Glück ist – wie Liebe – immer ein Geschenk. Ein Geschenk des Lebens, des Schicksals, des Universums – oder, wenn Sie gläubig sind, ein Geschenk Gottes.
Dieses Paradox wird oft übersehen. Viele Menschen glauben, sie könnten durch zielgerichtetes Streben ihr Glück 'produzieren' ("Jeder ist seines Glückes Schmied").
Sie verwechseln Glück mit Dingen, die tatsächlich bis zu einem gewissen Grad erreichbar sind:
• Reichtum etwa kann man in vielen Fällen erfolgreich erstreben.
• Erfolg, Status, gesellschaftliche Anerkennung ebenso.
• Auch Zufriedenheit oder ein gewisses Maß an Wohlergehen lassen sich durch kluge Lebensführung, durch Disziplin und Mühe durchaus erhöhen.
Aber Glück? Glück ist etwas anderes. Und jeder Mensch, der einmal wirklich verliebt war, weiß es!
Das Missverständnis besteht darin, dass viele glauben, wenn sie nur genug äußere Bedingungen optimieren – bessere Wohnung, schönerer Körper, mehr Anerkennung –, dann werde sich das Glück schon einstellen.
Doch das Leben lehrt: Es funktioniert nicht so.
Man kann sich Wohlstand erarbeiten.
Man kann sich Ansehen verdienen.
Man kann sich Bequemlichkeit verschaffen.
Aber Glück?
Vielleicht wird das an einem historischen Bild besonders deutlich:
Man stelle sich einen Fürsten im Mittelalter vor. Er lebt auf seiner Burg, thront über seinen Ländereien, fühlt sich reich, mächtig, privilegiert.
Und doch: Sein Komfort ist äußerst begrenzt. In kalten Winternächten wärmt ihn allein das Feuer seines Kamins. Bei Krankheit hat er weder Schmerzmittel noch Antibiotika. Musik bedeutet für ihn das Spiel einiger Sänger und Lautenspieler, einfache Melodien auf primitiven Instrumenten. Und dennoch fühlt er sich nicht unglücklich – weil er seine Lebensumstände nicht an einem fernen Ideal misst, sondern an dem, was in seiner Welt möglich ist.
Vergleichen wir das mit einem heutigen Sozialhilfeempfänger: Er lebt mit Heizungen, moderner Medizin, ständiger Verfügbarkeit von Wissen, grenzenloser Unterhaltung. Er besitzt Annehmlichkeiten, von denen ein mittelalterlicher Fürst nicht einmal zu träumen wagte. Und doch fühlen sich viele dieser Menschen unglücklich, unterprivilegiert, benachteiligt.
Was macht den Unterschied? Nicht die äußeren Bedingungen, sondern die Erwartungen. Glück hängt nicht davon ab, wie viel wir objektiv besitzen oder erleben können, sondern davon, wie unsere innere Bezugsgröße aussieht. Glück entsteht, wenn Wirklichkeit und Erwartung harmonieren. Unglück entsteht, wenn eine Kluft zwischen beiden klafft.
Und je größer unsere Ansprüche, desto größer das Risiko, unglücklich zu werden. Je mehr wir glauben, uns stünde ein perfektes Leben zu – ein Leben voller Gesundheit, Liebe, Reichtum, Anerkennung –, desto eher erleben wir unser reales Leben als Mangel und Enttäuschung.
In gewissem Sinne ist das moderne Leben eine permanente Glücksverhinderungsmaschine: Die Werbung, die sozialen Medien, das ständige Sichtbarwerden von “besseren” Lebensentwürfen anderer Menschen schüren Erwartungen ins Unermessliche. Das Resultat: ein chronisches Gefühl von Unzulänglichkeit, ein diffuser Schmerz des Nicht-genügens.
Was wäre die Alternative?
Vielleicht liegt der Schlüssel darin, das Streben nach Glück bewusst aufzugeben – nicht resignativ, sondern als eine Form von (Alters-)Weisheit.
Wir wissen doch: Glück kann nicht erzwungen werden. Aber wir können Bedingungen schaffen, unter denen es eher eintreten kann – so wie ein Gärtner keine Blume “machen” kann, aber die Erde bereitet, Wasser gibt, Licht ermöglicht, damit sie wachsen kann.
Glück – wenn es kommt – ist ein Geschenk. Wir können es nicht einfordern, nicht herbeibefehlen, nicht kaufen. Aber wir können das innere Feld bereiten, auf dem es wachsen könnte. Und wir können verhindern, dass wir uns durch unerfüllbare oder übertriehbene Erwartungen, durch ständiges Vergleichen, durch chronische Gier selbst in den Zustand des Unglücklichseins versetzen.
Das also ist meine Hauptaufgabe als Coach: Nicht, Glück zu versprechen oder herbeizuzaubern – das wäre eine Lüge. Sondern Wege zu zeigen, wie man es sich schwerer machen kann, unglücklich zu werden. Und damit die Tür offen bleibt für das, was sich schenken will – wenn es denn kommen mag.
In diesem Sinn könnte Alter Reife und spirituelle Entwicklung bedeuten: Nicht mehr dem Trugbild nachzujagen, man müsse das Glück “machen”. Sondern mit offenen Händen das Geschenk des Lebens zu empfangen, wenn es kommt. Und in jedem Fall zu lernen, Frieden zu schließen mit dem, was ist.
Hinweis:
Wenn Sie sich durch diesen Beitrag angesprochen fühlen und versuchen wollen, sich über Ihren Weg ins Alter oder im Alter mit Gleichgesinnten auszutauschen und Anregungen zu geben und zu erhalten, dann ist die folgende Veranstaltung an den beiden Weihnachtstagen dieses Jahres vielleicht interessant für Sie:
1 commento
What Dr Peter wrote offers a gentle and inspiring perspective on aging.
It reminds us that growing older can be a meaningful journey, filled with spiritual depth and reflection. I appreciate the way it connects personal experience with a broader sense of purpose. It’s comforting to see aging not as decline, but as an opportunity for inner growth.
Thank you for sharing such a calming and insightful message. It’s lovely, like reading a book, it reassures me while I am overwhelmingly busy these days! 🥰 And thank you for making it harder for people to make themselves unhappy, it has always been great to have you in this beautiful world~😊